Alter zum Zeitpunkt des Briefes: 
1.0 Jahre

"Man merkt doch gar nichts!"

Mit diesem Ausspruch, in seinen Variationen, werde ich immer wieder konfrontiert, seit unsere Tochter Hannah am 13. August 1997 geboren wurde.

Zuerst hat wirklich niemand etwas "gemerkt". Die Geburt war nicht leicht, aber Hannahs Apgar-Werte waren bestens. Allerdings: beim Versuch, Trinken, Schlucken und Luftholen zu koordinieren, stellte sich Hannah fürchterlich an. Aus diesem Grund wurde sie am folgenden Tag zur Beobachtung in die Kinderklinik verlegt.

Dort begannen die Rundum-Checks, und dabei hat jemand etwas "gemerkt", aufgrund der hohen Stimme unserer Tochter (über die wir uns bis dahin eher lustig gemacht hatten), und ihrer Physiognomie. Als wir sie nach zwei Wochen mit nach Hause nehmen durften, hatte der Gen-Test den Verdacht bestätigt: Cri-du-Chat-Syndrom.

Wir wollten von Anfang an mit offenen Karten spielen und haben alle Freunde und Verwandte entsprechend informiert. Die ersten Reaktionen waren Betroffenheit, Bestürzung, Trauer - wie bei uns. Doch bereits das Bild, das wir mit verschickten, bewirkte bei einigen den Ausspruch "Aber man merkt doch gar nichts!" Diese Reaktion kam dann bei den Besuchern, die Hannah direkt erleben durften, noch viel häufiger.

Ich frage mich: Was hatten sie erwartet? Ein kleines Monster? Ein Kind, das abstoßend aussieht oder sich sonderbar benimmt, aufgrund seiner Behinderung? War es Erleichterung, dass ihnen "nur" ein süßes Baby in der Wiege zugemutet wurde? Fast schon Unglauben - man müßte es doch "merken", dass Hannah anders ist?!

Es scheint mir, als käme der Ausspruch immer öfter, je älter Hannah wird. Wenn sich schon das Neugeborene nicht deutlich von gesunden Kindern abhebt, dann doch das ältere Baby? Bis jetzt ist Hannah aber von den Vorsorge-Untersuchungen her unauffällig (abgesehen von einem unterschiedlichen Muskeltonus in den beiden Körperhälften, was aber vorwiegend Arzt und Krankengymnastin registrieren). Mit ihren 4_ Monaten ist sie z.Z. dabei, das Zimmer zu "durchrollen" (vom Rücken auf den Bauch wieder auf den Rücken u.s.w.). Wer es nicht weiß, "merkt" nichts. Und reagiert wie eine Mutter beim Babyschwimmen: "Sie ist doch nicht wirklich behindert? Man merkt doch gar nichts! Sie benimmt sich doch ganz normal, wie jedes Baby auch."

Mag sein - bis jetzt. Es ist wahr, wären da nicht die regelmäßigen Turnübungen, könnte auch ich glatt vergessen, dass eben nicht alles "ganz normal" ist. Dass sie so "fit" ist, freut mich als Mutter natürlich. Aber vor allem bei Verwandten (Großeltern!) schwingt inzwischen ein neuer Ton mit. Eine Hoffnung, dass sie sich überhaupt nicht von anderen Kindern unterscheiden würde, allen Gentests zum Trotz. Und das macht mich nachdenklich, fast schon besorgt. Jetzt noch sind alle von dem süßen Fratz begeistert. Und was wird sein, wenn die Unterschiede deutlicher werden? Werden sie sie immer noch genauso mögen? Oder sich dann von ihr abwenden, vielleicht sogar enttäuscht sein, weil doch "am Anfang alles ganz normal war"?

Ich hoffe, nicht. Ich hoffe sehr, daß es gelingen wird, daß unsere Mitmenschen Hannah als Hannah annehmen, so wie sie ist, und nicht nur solange sie (noch) sagen können: "Man merkt doch gar nichts!"

Hannas Mutter Beate (im Dezember 1998)

Fotoalbum

Fasnet
Brotfrau (am Kinder- und Heimatfest)
Urlaub
Bild 05.03.2011 - 23:12
Firmung
Urlaub Nordstrand 2012 (1)
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