Alter zum Zeitpunkt des Briefes: 
5.0 Jahre

Jetzt wo ich 1/2 Jahr alt bin, möchte ich über mich erzählen.

Lara hat so ziemlich bei allem "HIER" geschrien, was vielleicht nicht so erstrebenswert gewesen wäre.

Ihre kleine, große Seele suchte sich als Mutter mich aus - damals eine schwer depressive Frau, bei der sie zu diesem Zeitpunkt alles andere als erwünscht war. Bevor Lara das Licht der Welt erblicken sollte, trennten sich ihre Eltern - so wurde sie nach einer psychisch qualvollen Schwangerschaft zum Osterfest am 3.4.1994 in keine intakte Familie mehr hineingeboren.

Mit ihren 2140 g und einer Größe von 46 cm voller Käseschmiere war sie für mich das schönste Baby der Welt - sie wirkte so reif und erwachsen auf mich. Laras Papa kam kurz nach der Geburt dazu und fragte: "Hast du sie schon schreien hören?" und ich antwortete voller Freude, weil es mir gleich so vertraut war: "Ja, und sie schreit wie eine kleine Katze!" Ich liebe Katzen und hatte bis dahin immer mit Katzen zusammengelebt. Wegen rezidivierenden Spuckens und Trinkschwierigkeiten wurde Lara noch in der Nacht in die Kinderklinik verlegt, bekam eine Magensonde gelegt und wurde sondiert.

Die weiteren Untersuchungen ergaben, dass Lara sich für zwei präaurikulare Anhängsel (= kleine Anhängsel vor den Ohrmuscheln), eine klassische Vierfingerfurche, eine Weichgaumenspalte und Hartgaumenkerbe sowie eine Analatresie mit Analfistel (sie hat keinen After) entschieden hatte. Ebenso hatte sie "HIER" geschrieen bei der Vergabe von Schwerhörigkeit, nur einem sehenden Auge, einer leichten Skoliose (= seitliche Verbiegung der Wirbelsäule), zu engen Atemwegen und einer subglotischen Stenose (= Verengung der Luftröhre, die sich bei Weitung, z.B. durch einen Tubus bei einer Narkose, noch enger zusammenzieht). Letzteres sollte bei nachfolgenden medizinischen Eingriffen immer wieder zu mehr oder weniger großen Problemen führen.

Nach 10 Tagen lag bereits die Chromosomen-Analyse mit dem eindeutigen Ergebnis "Cri-du-Chat-Syndrom" vor - der Albtraum begann. "Das kannst du nicht alleine." kam es von der einen Seite, von der anderen "Wer weiß, ob das alles so stimmt, so schlimm wird es doch nicht werden."

Vor mir tat sich im Geiste ein völlig düsteres Bild auf - ein lebensunwertes, hoffnungs- und freudloses Leben als Perspektive für meine Tochter. Und so trennte ich mich nach zweimonatigem Klinikaufenthalt und einer kurzen Zeit in unserem neuen Zuhause von meinem Kind zu unserer beider Schutz. Lara kam in ein Kinderpflegeheim.

Viereinhalb bewegte Jahre vergingen, voller Sehnsucht und Trennungsschmerz, Therapie und kleinen Schritten, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Laras langsames Entwicklungstempo war für mich persönlich genau die richtige Geschwindigkeit. "Ich lerne mit Lara das Laufen!" - das wurde mein Leitsatz.

Und Lara entwickelte sich wirklich langsam. Mit 3 1/2 Jahren konnte sie erst krabbeln und selbst sitzen. Aber das Spiel mit Glöckchen und ihrem klimpernden Stehaufmännchen konnte bis zum Exzess getrieben werden und führte zu langandauernden stereotypen Handlungen. Nahrungsaufnahme wurde von Lara strickt abgelehnt, so dass im Juli 1996 eine PEG (= Ernährungssonde durch die Bauchdecke in den Magen) gelegt wurde. Dafür klappte es immer gut mit dem Zähneputzen und die Spucke wurde und wird immer noch zeitweise zu Laras liebstem Spielzeug; durch dieses Sabbern muss sie dann mehrmals am Tag umgezogen werden.

Lara erhielt Krankengymnastik von den ersten Lebenswochen an. Als sehr förderlich für die motorische Entwicklung ist Laras Liebe zum Element Wasser. Seit ihrem 2. Lebensjahr geht Lara mit viel Spass und ohne Angst zum Schwimmen, was das Krabbelnlernen sehr vorangetrieben hat. Nach dem Legen der Paukenröhrchen im November 1997 ist häufigeres Lautieren zu beobachten. "Mam mam mam" war die erste Silbenaneinanderreihung, die heute noch "Mama" oder Traurigkeit ausdrückt.

Die Gaumenspalte wurde im Mai 1997 verschlossen.

Seit Sommer 1998 leben Lara und ich nun gemeinsam mit unserer Mischlingshündin Velvet zu Hause. An Velvet findet Lara toll, dass durch ihre Kläfferei bei uns immer was los ist. Velvet passt sehr gut auf Lara auf und läßt keinen Fremden an sie ran. Ansonsten interessieren sich beide wenig füreinander. Während ich arbeite, geht Lara mit viel Freude in den Heilpädagogischen Kindergarten, wo sie beherzte und liebevolle Betreuer/innen hat. Vom Umgang mit den anderen Kindern profitiert Lara enorm - vor allem was das Abgucken von "Blödsin machen" angeht! Im Kindergarten bekommt sie KG, logopädische Betreuung und es wird Schwimmen gegangen. Eine Kindergartenfreizeit hat Lara auch bereits mitgemacht: Eine Woche an der Ostsee - natürlich ohne Mama!

Lara ist jetzt 5 1/2 Jahre alt, sitzt sehr sicher, krabbelt immer besser und läuft schon einige Schritte an beiden Händen gehalten. Sie will auch die Treppe hochsteigen, denn im oberen Bereich des Hauses ist ihr Kinderzimmer, aber dabei nimmt sie vor lauter Ungeduld meistens zwei Stufen auf einmal. Inzwischen läßt sie einzelne Fütterversuche mit dem Löffel zu und trinkt Tee aus einer Trinklernflasche. Seit dem Frühling 1999 geht Lara in unserem Dorf zum Reiten: einmal wöchentlich Hippotherapie auf einem Isländerpferd.

Leider ist Lara sehr häufig erkältet. Trotz Hyperaktivität und unregelmäßigem Schlafrhythmus macht Lara auf mich einen ausgeglichenen Eindruck und ist die meiste Zeit ein fröhliches, temperamentvolles und schmusiges Kind, das sehr viel Liebe zu geben hat. Meiner Meinung nach könnte sie bestimmt schon mehr, wenn sie nur wollte. Ihr verdammter Dickschädel ist ihr oft selbst im Weg.

Für mich als alleinerziehende Mutter ist es das Wichtigste, dass ich uns beiden ein gemeinsames Leben ermöglichen kann, in dem wir beide nicht zu kurz kommen. Und Lara macht dabei prima mit! Sie läßt sich gut von Oma und Kindermädchen betreuen und hat bereits einen 14 tägigen Aufenthalt im ihr vertrauten Kinderheim ohne Probleme und nachfolgende Schäden gemeistert, als ich in den Urlaub gefahren bin. Auch beschäftigt sie sich mal längere Zeit alleine in ihrem Zimmer.

So hat sich für uns doch noch alles um Guten gewendet. Es braucht halt alles seine Zeit. Das habe ich durch Lara gelernt.

Laras Mutter Petra (im Herbst 1999)

Fotoalbum

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