Alter zum Zeitpunkt des Briefes: 
18.0 Jahre

Marie (18 Jahre - auf dem Foto 12 Jahre)

Marie wurde 1984 nach einer unproblematischen Schwangerschaft in der 42. SSW mit einem Gewicht von 3200g, Körperlänge von 50 cm und Kopfumfang von 34 cm geboren. Sie war ein Wunschkind und unser Erstes; Es folgten Gunnar I987 und Martin 1990. Die Diagnosemitteilung und die ersten Monate mit Marie verliefen ähnlich dramatisch wie bei den meisten Eltern. Sie bekam ein halbes Jahr lang Muttermilch. Wegen ihrer Saugschwäche war das Stillen eine Prozedur. Sie schaffte ungefähr ein Drittel der Mahlzeit, die restliche abgepumpte Milch gab ich ihr mit der Flasche hinterher.

Im ersten Jahr musste sie auf Grund einer Hüftluxation eine Pawlik-Bandage tragen. Die Hüfte entwickelte sich dadurch ganz gut Mit neun Monaten stellten die Ärzte dann noch starke Weitsichtigkeit fest; und Marie trägt seitdem eine Brille. In den ersten Jahren wurden die Gläser wegen Schielens abwechselnd zugeklebt, und im Alter von 6 Jahren folgte eine Schieloperation, die gut verlief. Mit Brille kann sie auch sehr kleine Dinge im Bilderbuch gut erkennen, das räumliche Sehen bereitet ihr allerdings Schwierigkeiten. In neuer Umgebung ist sie oft unsicher und ängstlich. Sie kann Stufenabstände und stark gemusterte Fußbodenbeläge schlecht einschätzen.

Als Kind hatte sie oft eitrigen Schnupfen und Halsinfekte. Sie war dann körperlich sehr geschwächt und konnte Reizüberflutung noch schlechter verarbeiten. Sie reagierte dann in der Schule extrem aggressiv und autoaggressiv und ich behielt sie oft lange zu Hause. Im Jugendalter wurde ihr Immunsystem deutlich stabiler und sie hielt Frustrationen und Überforderungen zunehmend besser aus.

Während sie als Kind in Stresssituationen (erhöhter Lärmpegel, neue Situationen, gleichzeitiges Unterhalten mehrerer Leute, Missgeschicke, disharmonische Stimmung...) autoaggressiv (Kopfschlagen, Haare ausreißen, Haut aufkratzen...) oder aggressiv gegen andere (beißen, kneifen, ziehen...) reagierte, lernte sie im Laufe der Jahre, immer besser damit umzugehen.

Wenn sie als Kind ausrastete, versuchten wir, sie aus ihren zwanghaft wirkenden stereotypen Autoaggressionen herauszureißen, indem wir sie kurz festhielten, in einen anderen Raum brachten und ablenkten. Es galt, Sensibilität dafür zu entwickeln, rechtzeitig zu merken, wann eine Situation umkippte.

Eine schwierige Situation waren immer Familiengeburtstage. Bis zu einem gewissen Punkt genoss Marie das Ereignis, neugierig und kontaktfreudig wie sie ist. Aber irgendwann konnte sie die Eindrücke und das Durcheinandergerede nicht mehr adäquat verarbeiten bzw. filtern, wurde zunehmend unruhig und rastlos, begann, sich zu schlagen und zu jammern. Sie lernte mit der Zeit, sich aus unerträglich werdenden Situationen selbst zurückzuziehen. (Nähert sich der kritische Punkt, kneift sie die Augen zusammen, bekommt einen gequälten Gesichtsausdruck und verläßt den Raum.)

Mit zunehmender Sprachkompetenz konnte sie ihre Gefühle und Wünsche auch sprachlich äußern: "Ich brauch' Ruhe. Es ist zu laut. Ich kann das nicht ertragen."

Ab dem 12. Lebensjahr wurde Marie viel ausgeglichener und ruhiger. Im gesamten Tages- und Wochenlauf fällt es ihr leichter zurechtzukommen, wenn sich wiederholende, überschaubare Strukturen bestehen. So ist stets ihre erste Frage nach dem aufwachen: "Was liegt heute an?"

Ich erkläre dann detailliert: " Aufstehen, Anziehen, dann fahre ich dich zur Schule, heute ist Montag, da habt ihr Kochen, Petra holt dich um ein Uhr ab. Dann ruhst du dich aus und spielst. Heute Nachmittag ist bei Frau R. KG."

Sie fragt im Laufe des Tages mehrmals nach und will immer wieder den Ablauf wissen. Das gibt ihr Sicherheit und Orientierung. Passiert etwas Unvorhergesehenes, wird sie nervös. Auf neue Situationen, veränderte Tagesplanungen bereiten wir sie, wenn möglich, vor.

Heute ist Marie fast 18 Jahre alt, und sie und wir bekommen ihre Stimmungsschwankungen relativ gut in den Griff. Ich denke, dass ihre positive kognitive und sprachliche Entwicklung darauf einen entscheidenden Einfluss hat. Hierzu einen Abschnitt aus, dem letzten Entwicklungsbericht ihrer Lehrerin:

"Marie wird mit 7 weiteren Schülern in der Abschlussstufe der Tagesbildungsstätte H. beschult. Sie hat sich schnell in den für sie neuen Strukturen und Abläufen zurechtgefunden und fühlt sich in der Gruppe sehr wohl. Wesentlicher Bestandteil der Förderarbeit lag im Abbau von Maries' autoaggressivem Verhalten und in der Hinführung zu einem positiven Arbeitsverhalten, das methodisch sowohl Einzelförderung als auch Unterricht in einer Kleingruppe ermöglicht. In Verbindung mit Maries' Cri du Chat Syndrom zeigen sich erhebliche autistische Auffälligkeiten. Durch die Fachberaterin für Autismus wurden autismusspezifische Förderkonzepte entwickelt. Eine klar strukturierte visuelle Tagesplanung, sowie der Aufbau von Bewältigungsstrategien in Überforderungssituationen helfen Marie immer stärker aus ihren alten Verhaltensmustern. Marie hat sich im letzten Schuljahr sprachlich enorm weiterentwickelt. Konflikte, Probleme oder das Durchsetzen von Bedürfnissen regelt sie inzwischen vorwiegend auf sprachlicher Ebene. Autoaggressives Verhalten beobachten wir nur noch in klaren Überforderungssituationen. Da in der Abschlussstufe viele Unterrichtseinheiten in Gesprächsform stattfinden, ist bei Marie ein intellektueller Lernzuwachs zu verzeichnen. Sie hört genau und konzentriert zu, stellt bei Unsicherheit Fragen und gibt themenbezogene Kommentare. Marie kennt alle Wochentage und kann spezielle Inhalte zuordnen, Jahreszeiten und Monate kann Marie in die richtige Reihenfolge bringen. Sie kennt alle äußerlichen Körperteile, kann diese benennen und in Zusammenhang mit Schmerz oder Krankheiten bringen. Im Mengenbereich bis 12 kann sie zuordnen und Zahlenbilder erkennen und benennen."

Besonders erstaunt uns immer wieder Maries gutes Gedächtnis. Sie kann sich Namen von Ärzten, Medikamenten... über viele Jahre merken. Sie hat einen besonderen Faible für außergewöhnliche und komplizierte Wörter. So bestellt sie zum Beispiel ihr Essen in der Schule meistens nach dem Klang des Namens (z.B. Cordon bleu) und nicht danach, was sie gern isst. Bekommen die anderen dann Nudeln, möchte sie diese viel lieber essen. Wenn sie ein Wort nicht kennt, fragt sie sofort nach der Bedeutung. Wird sie selbst wegen ihrer verwaschenen Aussprache nicht richtig verstanden, versucht sie mit sehr viel Ausdauer, ihrem Gegenüber das Wort mit Hilfe von Umschreibungen zu erklären. Marie hat auch einen ausgeprägten Geruchs- und Geschmackssinn und nimmt Stimmungen und unterschwellige Disharmonien sehr genau wahr. Sie spührt sofort, wenn etwas los ist, an auch nur minimal veränderter Mimik. "Mama, was ist los?" Überlege ich gerade, erkennt sie das an meinem Gesicht und fragt: "Mama, woran denkst du?" Auch auf den Tonfall der Sprache reagiert sie sehr empfindsam. Sie bemerkt ganz feine Nuancen.

Noch kurz ein paar Bemerkungen zum Schlafverhalten, Stuhlgang, Anziehen. Wie viele CDC-Kinder neigt Marie zur Verstopfung. Ihr Stuhlgang ist oft sehr hart, und sie muss sich enorm anstrengen. Während ich früher neben ihr auf dem Bidet saß und sie immer wieder zum Drücken animieren musste, will sie heute allein sein. Mit bewusster Ernährung klappt es jetzt ganz gut. Sie hat jeden oder jeden zweiten Abend Stuhlgang, eingebettet in einen rituellen Ablauf. Sie hatte bis auf einmal infolge eines Magen-Darm-Infektes nie zu einem anderen Zeitpunkt Stuhlgang. Auch Waschen und Anziehen möchte sie sich jetzt allein, probiert mitunter 10 mal sich die Hose anzuziehen wenn es nicht klappt. Sie liebt das Badezimmer über alles, geht oft zwischendurch hinein, sitzt auf dem Hocker, singt und träumt.

Auch das Schlafverhalten ist heute unproblematisch. Sie liegt gern in ihrem Bett und schläft durch. Als Baby schrie sie nächtelang, und wir legten uns viele Jahre zu ihr ins Bett. Wenn sie aufwachte, mit dem Kopf gegen die Wand schlug etc., drückten wir sie fest an unseren Körper, bis sie wieder einschlief. Spürte sie den Hautkontakt nicht mehr, wachte sie sofort wieder auf. Heute kann sie es nicht haben, wenn jemand mit im Bett liegt. Sie sagt dann: "Raus, ich brauch' Ruhe!" Schlafmusik an, Licht aus, Tür zu.

Maries Entwicklung bis zum Alter von 11,8 Jahren hat Klaus Sarimski in seinem Buch "Entwicklungspsychologie genetischer Syndrome" ausführlich beschrieben. Marie war eines mehrerer CdC-Kinder, die er während eines stationären Aufenthaltes im Münchner Kinderzentrum beobachtet und getestet hat. In seinem Buch heißt Marie "Angela". Die Beschreibung ist ab Seite 226 zu finden. (Interessierten kann ich die Kopien schicken.)

Wenn ich die Zeilen von Sarimski heute lese,. so muss ich feststellen, dass Marie sich in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt hat, und wir das Gefühl haben, dass sie auch noch eine Menge lernen kann. Sie ist zwar auch heute noch sehr stimmungslabil, besonders in Verbindung mit ihrer Regel, aber längst nicht mehr so ausgeprägt, und wir können heute alle besser damit umgehen. Auch die Brüder sind jetzt älter und verständiger. Marie lacht und kichert viel, sie ist sehr neugierig und geht unvoreingenommen auf alle Menschen zu.

Zur Zeit sind wir gedanklich sehr stark mit dem Leben nach der Schulzeit beschäftigt. Da Marie im Feinmotorischen und mit der Auge-Hand-Koordination große Schwierigkeiten hat und sich auch nicht sehr lange mit ein und derselben Sache beschäftigen kann und will, kommt für sie wahrscheinlich der normale Werkstattbetrieb nicht in Frage. Wir haben uns daher einer Elterninitiative angeschlossen, deren Ziel es ist, eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für seelenpflegebedürftige Jugendliche auf anthroposophischer Grundlage zu schaffen.

Nach 2 Jahren harter Arbeit und Verhandlungen hat der Verein jetzt ein wunderschönes großes Grundstück mit einer alten Villa am Stadtrand von O. (12 km von uns) ersteigert, wo wir unsere Ideen verwirklichen wollen. Es gibt da in den nächsten Jahren sehr viel zu tun.

Maries Mutter Katharina (Juli 2002)

 

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